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Forum » Diskussionen » Andere » Politik und Wirtschaft » [ST] Ägypten » Seite 3

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#21

Re: [ST] Ägypten

Hintergrund: Die Akteure der Krise


Nach dem Machtwechsel in Ägypten ist das Land tief gespalten. Opposition und Militär haben die islamistische Muslimbruderschaft ins Abseits manövriert. Nachfolgend die wichtigsten Akteure der Krise:

DAS MILITÄR: Nach der Wahl des Kandidaten der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, zum ägyptischen Präsidenten hat sich das mächtige Militär zunächst aus der Politik herausgehalten. Der neue Präsident wies die Armee in die Schranken und entmachtete die alte Führungsriege. Doch blieb das Militär ein Staat im Staate. Wachsende Konfrontationen zwischen islamistischer Regierung und Opposition brachten die Generäle wieder auf den Plan. Die Armee sieht sich weniger in einer politischen Rolle, sondern als eine Art Schutzmacht, die den Staat vor einem Kollaps bewahrt - notfalls mit radikalen Mitteln. Die Generäle herrschen im Land, ohne zu regieren.

PRÄSIDENT MOHAMMED MURSI: Nach seiner Wahl präsentierte er sich als Präsident aller Ägypter. Für seine Gegner war er jedoch nichts weiter als eine Marionette der Muslimbruderschaft. Ohne Rücksicht auf die Opposition boxte er mit Hilfe von Sondervollmachten - die er sich selbst erteilte - eine islamistische Verfassung durch. Zuletzt äußerte er sein Bedauern über seinen autoritären Regierungsstil und rief alle politischen Kräfte des Landes zum Dialog auf. Für seine Kritiker kam diese Einsicht zu spät.

DIE MUSLIMBRUDERSCHAFT: Die Muslimbruderschaft war vor dem Sturz des alten Regimes von Husni Mubarak offiziell verboten, wurde aber inoffiziell geduldet. Sie ist die am besten organisierte politische Bewegung Ägyptens und arbeitete vornehmlich im Untergrund. Deren Partei «Freiheit und Gerechtigkeit» erhielt bei der ersten Parlamentswahl die meisten Stimmen (37,5 Prozent). Den Kurs der Bruderschaft bestimmt sein Oberhaupt, Mohammed Badia, sowie dessen Stellvertreter Chairat Schater. Beide saßen in der Ära Mubarak wegen ihrer politischen Aktivitäten jahrelang im Gefängnis.

BÜNDNIS DER OPPOSITIONELLEN: Die Jugendbewegung sowie unterlegene Präsidentschaftskandidaten protestierten schon seit Monaten gegen die Regierung der Islamisten. Die jüngsten Massenproteste wurden angefacht durch die Protestbewegung «Tamarud» (Rebellion). Die Gruppierung hat nach eigenen Angaben mehr als 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi gesammelt. Auch mehrere Oppositionsführer riefen zu den Demonstrationen auf. Zu ihnen gehören der frühere Generalsekretär der Arabischen Liga, AMRE MUSSA, der linke Aktivist HAMDIEN SABAHI und Friedensnobelpreisträger MOHAMMED ELBARADEI.

DAS ALTE SYSTEM: Vertreter des alten Mubarak-Systems werden in Ägypten «Fulul» genannt, Überreste. Ihr wichtigster Vertreter ist der ehemalige Präsidentschaftskandidat AHMED SCHAFIK, der im Juni 2012 die Stichwahl gegen Mursi nur knapp verlor. Der letzte Regierungschef Mubaraks verließ anschließend Ägypten und reiste nach Abu Dhabi, um einer Anklage wegen Korruption zu entgehen. Die islamistische Regierung machte bei Unruhen stets «bezahlte Schläger des alten Regimes» für tödliche Konfrontationen verantwortlich.

DIE JUSTIZ: Hier gibt es Unterstützer und Gegner der Islamisten. Zuletzt gewannen die Gegner die Oberhand, nachdem das höchste Kassationsgericht den von Mursi ernannten Generalstaatsanwalt schasste und dessen Vorgänger wieder ins Amt einsetzte.

AL-AZHAR: Die Institution mit Moschee und Universität ist seit Jahrhunderten die wichtigste Stätte für die Gelehrten des sunnitischen Islam. Das Institut bekam zwar dank der Muslimbrüder mehr Einfluss, billigte aber nun deren Entmachtung.
Quelle
vor 2 Wochen

#22

Re: [ST] Ägypten

Zitat von Gero von Randow:
Putsch in Ägypten

Pein der Geduld

In Europa wuchs die Demokratie in Jahrhunderten. Auch die arabischen Länder brauchen dafür Zeit

Ägypten stellt den Westen vor ein Dilemma. Heißen wir den Putsch gegen den gewählten Präsidenten Mursi gut, weil die Militärs eine Entladung der Volkswut gegen die islamistische Regierung verhindert haben, bedeutet das: Wir nehmen Wahlen nur ernst, wenn uns das Ergebnis passt. Verurteilen wir den Putsch aber, verraten wir die Millionen Ägypter, die noch zahlreicher als vor dem Sturz Mubaraks auf die Straßen und Plätze strömten, um die nächste Phase der Revolution zu fordern.

Deren Argument lautet: Mursi hatte bloß die Macht der eigenen Leute im Sinn. Demokratisch gewählt, regierte er undemokratisch. Mangels verfassungsmäßiger Institutionen, die den Durchmarsch der Islamisten hätten aufhalten können, konnte nur noch das Militär Einhalt gebieten. Man muss zugeben: Abwegig klingt das nicht.

Für viele steht schon fest: Araber und Demokratie – das wird nichts


Wie man es auch dreht und wendet, das Dilemma verschwindet nicht. Aufgelöst wird es wohl auch nicht durch Nachdenken, sondern allein durch die politische Wirklichkeit: Der Putsch hat neuen Möglichkeiten Raum gegeben, und man wird sehen, ob für Gutes oder für Schlechtes. Verfassungsreferendum, Parlaments- und Präsidentenwahlen sind angekündigt, aber ob sie wirklich fair und friedlich verlaufen werden, sieht niemand vorher.

Die an Mursis Anhängern begangenen Massaker erinnern jedenfalls an das algerische Drama. Nach dem Wahlsieg der Islamisten annullierten die Generäle 1992 die Wahl, trieben die Islamisten in den Untergrund, und ein grausiger Bürgerkrieg begann. Spätestens jetzt steht deshalb für viele fest: Araber und Demokratie – das wird nichts.

Blicken wir auf die greifbaren Ergebnisse des "Arabischen Frühlings": Militärherrschaft in Ägypten, Clankämpfe in Libyen, Bürgerkrieg in Syrien. Erfreuliches ist in den Ländern zwischen dem Atlantik und dem Persischen Golf kaum entstanden. Allenfalls eine von kompromissbereiten Islamisten geführte Koalitionsregierung am Ursprungsort der Bewegung, im kleinen Tunesien. Hier fallen die Gegensätze nicht so krass aus wie anderswo.

So kann man es sehen. Allerdings nur, wenn man die wichtigste Tatsache außer Acht lässt. In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben die Völker des arabischen Raums gelernt, dass die Geschichte prinzipiell offen ist. Da ist eine politische Generation entstanden, deren Grunderfahrung das freie Handeln ist.

Mit dieser Erfahrung hatte auch der lange Weg Europas in die politische Moderne begonnen. Am Anfang, als noch nirgendwo von Demokratie die Rede war, stand die Herausforderung der Autoritäten. Die Magna Charta von 1215 zum Beispiel, die der Macht des englischen Königs Grenzen setzte. Oder der Thesenanschlag Martin Luthers von 1517, der die geistige Allmacht der Kirchenhierarchie infrage stellte. Das war die Saat der Freiheit. Jahrhunderte später kam ein neuer Gedanke hinzu: das Ende der vererbten Privilegien, der sozialen und der politischen, und mit ihm – allmählich – die Demokratie.

In Frankreich, dem revolutionären Kernland des Kontinents, vergingen nach der Revolution von 1789 immerhin noch fast hundert Jahre, bis eine gefestigte Demokratie entstanden war. In der Zwischenzeit gab es das Terrorregime Robespierres, den Ausrottungskrieg gegen die frommen Bauern Westfrankreichs, außerdem zwei Kaiserreiche, darunter eines, das ganz Europa mit Krieg überzog, und immer wieder blutige Rebellionen und deren noch blutigere Niederschlagung.

Aber Frankreichs Revolution strahlte aus auf den ganzen Kontinent, die europaweiten Aufstände von 1830 und 1848 gebaren neue revolutionäre Generationen. Und doch – wie lange hat es gedauert und wie viel hat es gekostet, bis schließlich auch die Deutschen – und zwar alle – in einer gesicherten Demokratie leben konnten!

Wir sollten die arabische Welt also mit Geduld betrachten. Womit keinesfalls der böse Spruch vom Hobeln und den Spänen gelten soll. Menschen sind keine Späne. Der chilenische Diktator Augusto Pinochet ertränkte ein sozialistisches Experiment im Blut des Volkes, bevor er den Weg zu Marktwirtschaft und Modernisierung öffnete; heute ist Chile eine Demokratie. Entschuldigt das ein Folterregime? Niemals. Ebenso wenig würden die vom ägyptischen Militär erschossenen Islamisten wieder lebendig, wenn es den Generälen gelänge, einen stabilen Übergang zu einer verfassungsmäßigen Ordnung zu bauen.

Nein, der Westen darf sich keine Ungenauigkeiten erlauben. Ernst genommen werden wir nur, wenn wir uns treu bleiben. Auch im Fall Ägyptens gilt daher: Massaker sind Massaker. Zwar ließe sich einwenden, die Meinung des Westens sei sowieso nicht von Belang. Das stimmt aber allenfalls für die tägliche Machtpolitik. Darauf, wie wir mit unseren Idealen umgehen, wird im arabischen Raum sehr genau geachtet.

Zugleich sollten wir Europäer nicht so arrogant sein, Machtwechsel in einer Revolution an den Maßstäben unserer Verfassungen zu messen. Die arabische Demokratie ist noch nicht, sie soll erst werden. Revolutionen gehen zwei Schritte vorwärts und einen zurück, nehmen erneut Anlauf und enden erst, wenn alle Beteiligten erschöpft sind. Die arabischen Völker sind noch auf dem Weg – auch in Ägypten.

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